Es gibt Kindheitserinnerungen, die einen Menschen lange begleiten. Auch ich habe ein paar, die mir noch heute zu denken geben. Eine meiner wichtigsten ist folgende:
Die Hermann-Logik
Die Geschichte des Mannes, dessen Wert unabhängig von Kapital war, aber dessen Funktion unersetzlich für die Gemeinschaft war.
In den 70er Jahren lebte in einer bayerischen kleinen Stadt von knapp 10.000 Einwohnern ein geistig etwas zurückgebliebener Mann. Jeder wusste, dass die kognitiven Fähigkeiten dieses Mannes nicht dazu ausreichten, eine normale Arbeit zu erledigen. (Zu dieser Zeit waren Behindertenbetriebe noch nicht flächendeckend etabliert und der Mann wollte auf keinen Fall "in die Fremde" ziehen
Damals war das soziale staatliche Netz noch weniger etabliert, bei weitem noch nicht, bis ins Kleinste geregelt.
Da niemand für den "dicken Hermann", das war der Name, unter dem er allgemein bekannt war, zuständig war, und auch keiner die Vormundschaft übernehmen wollte, stand er offiziell unter der Obhut der Gemeinde. (Heute wäre man über diese Bezeichnung wohl entsetzt. Aber glaubt mir, für uns war er der dicke, und der andere Bauhofmitarbeiter der dünne Herman. Und die ganze Stadt wusste, wer mit diesem Namen gemeint war, ohne es auch nur im Geringsten böse oder diskriminierend zu meinen.)
Um diesen Mann sinnvoll zu beschäftigen und bestmöglich zu integrieren wurde er als Gärtnergehilfe im Bauhof angestellt.
Seine Aufgabe war einfach.
Er musste lediglich den ganzen Tag durch die Straßen wandern und mit einem Spatel das Unkraut zwischen Randstein und Straße entfernen. Im Winter musste er Schnee räumen.
So zog der Mann in seiner eigenen Wichtigkeit und Würde mit seinem Handwagen durch die Stadt und riss, Stück für Stück, unaufhaltsam in diszipliniertem und doch gemächlichem Tempo, unerwünschtes Grünzeug aus. Wir alle waren an ihn gewöhnt. An die adipöse, fasst kugelförmige Gestalt. An das immer freundliche Lächeln. An den großen kindlichen Blick.
Wie überall, so verging auch in der bayerischen Kleinstadt die Zeit. Hermann wurde alt. Eines Tages war er einfach nicht mehr da.
Und auf einmal fehlte was
Anfangs bemerkten wir es gar nicht. Die Zeit verging auch ohne Hermann. Wir alle hatten zu tun.
Aber bereits im darauffolgenden Sommer hatte sich etwas im Stadtbild verändert. Es sah unordentlicher, ungepflegter aus. Mit der Zeit wurde es deutlich. Unerwünschtes, teils kniehohes Gestrüpp wuchs zwischen Bürgersteig und Straße. Praktisch überall.
Natürlich. Es gab neue Verordnungen, die verfügten, dass Hausbesitzer den Bürgersteig von Grünzeug freihalten hätten. (Klappt aber bis heute noch nicht lückenlos.) Es gibt auch Wartungsfahrzeuge, die das Gras entfernen. Aber eben auch nicht lückenlos.
Seit vielen Jahren geht die ruhige, unauffällige Arbeit dieses Mannes ab. Bis heute ist er unersetzt!
Ich erzähle diese Geschichte nicht um die gute alte Zeit zu loben. So gut war sie nicht. Ich möchte sie aus vielen Gründen nicht zurück.
Heute könnten wir diesem Mann helfen, ihn besser unterstützen und integrieren. (Einige Jahre früher hätte er sein Leben wohl in einem KZ beendet.)
Aber ich habe daraus gelernt.
Wenn ich mein Ziel nicht auf einmal erreichen kann, kann ich es in vielen, kleinen Schritten. Es dauert sowieso bei jedem wichtigem Unterfangen seine Zeit, bis man die Früchte der Bemühungen sieht.
Manchmal bemerken wir erst wie wichtig jemand ist, wen er nicht mehr da ist.
Jeder Mensch, egal in welcher Funktion, verdient Würde und die Anerkennung seiner Rolle im Ganzen. Egal wie wichtig oder gut honoriert eine Aufgabe scheint, oft sind es die unscheinbaren Tätigkeiten, die das Leben aller erleichtern.
Jeder ist wichtig!
In einem gut geführtem Unternehmen kann der Chef vierzehn Tage Urlaub machen, und der Betrieb läuft einfach weiter. Kommt vierzehn Tage keine Putzfrau, leiden alle darunter.
Damit unser hochkomplexes System funktioniert, müssen alle Rädchen vorhanden sein und ineinandergreifen.
Seltsamerweise neigt unsere Kultur dazu die Arbeiten, die humanitär am wichtigsten sind, am schlechtesten zu entlohnen und wertzuschätzen, sondern im Gegenteil als selbstverständlich gegeben nicht ausreichend zu honorieren.
Dummerweise handelt es sich hier aber oft genau um die Tätigkeiten, die seit jeher unbezahlt von Frauen und Sklaven erfüllt wurden. Sich um Kinder, Kranke und Alte zu kümmern, so genannte unbezahlte Carearbeit, ist noch immer überwiegend Frauenarbeit. Es ist so offensichtlich, dass ich es nicht einmal belegen muss. (Mal ganz ehrlich! Wie viele männliche Putzfrauen kennst Du?)
Auch Männern gehts nicht besser.
Sie arbeiten auch billig und unterbezahlt in schweren Produktionsberufen, beim Bauhof, auf dem Bau und in vielen verborgenen Bereichen die erst auffallen, wenn sie nicht mehr erledigt werden.
Egal ob Mann oder Frau! Sie alle haben eines gemeinsam.
- Die Angst, trotz Fleiß und harter Arbeit nicht über die Runden zu kommen.
- Die Angst vor Altersarmut.
- Die Angst, dass man von einem Job abhängig ist, der einen ausbeutet, weil es keine Alternative gibt.
Der Mechanismus, mit dem das System sich selbst in Schach hält.
Die ständige Angst ums Überleben, auch diesen Monat wieder grad mal so um die Runden zu kommen, nimmt die Kraft und die finanzielle Grundlage, die Zukunft längerfristig finanziell zu planen und abzusichern.
Die großartige Vera F. Birkenbihl erklärte es so:
Ein Mensch, der für seine wichtige Tätigkeit nur knapp entlohnt wird, muss seine gesamte Energie im Kampf um die Existenz binden. Es bleibt kein freier Raum für Neugier, für Kreativität oder für die Planung einer besseren Zukunft.
Die ständige Sorge sorgt dafür, dass die wichtigsten Rädchen im Getriebe zwar funktionieren, aber niemals die Möglichkeit erhalten, ihr volles Potenzial zu entfalten, weil sie ständig mit der Sorge um ihre Existenz beschäftigt sind.
Ihnen fehlt die Würde und die Möglichkeiten, die ihnen zustehen. Viel schlimmer, dem System fehlt die freie, schöpferische Kraft und die verborgenen Talente dieser Menschen.
Das ist nicht nur für die Betroffenen fatal. Es zwingt das ganze System in enge Ketten und verzögert jegliche Entwicklung.
Wir verschenken Talent und Potenzial.
Wohlhabende Menschen können es sich leisten, ihren nicht ganz so klugen Kindern bessere Schulen, Nachhilfeunterricht, musikalische Schulung und sportliche Aktivitäten zur Teilhabe und zur Verbesserung sozialer Skills zu ermöglichen. Das heißt, die Defizite, die das Kind hat, können zu einem großen Teil ausgeglichen werden.
Ein "armes" Kind jedoch wird lernen, zur Not mit Gewalt, für sein tägliches Überleben zu kämpfen.
Selbst wenn dieses Kind die Fähigkeiten eines Einsteins oder eines Michelangelos hätte, wir würden es nie erfahren. Das Potenzial dieses Kindes ist unwiederbringlich verloren, weil es keine Möglichkeiten hat, seine Talente zu entfalten.
Wenn Geld als Maßstab dient, nicht nur Leistung, sondern auch Würde zu bewerten, verliert am Ende nicht nur der Einzelne, sondern die gesamte Gesellschaft. Ein Preis, den wir uns als Menschheit eigentlich nicht mehr leisten können.
Wer weiß, wie viele Genies unsere Gesellschaft unentdeckt im existenziellen Kampf um das tägliche Brot verliert?
Der wahre Reichtum liegt nicht im Horten von Geld, sondern in der Freisetzung des Potenzial jedes Einzelnen.
Der Irrtum des Homo Oeconomicus
Es wurde seit der frühen Industrialisierung die Annahme etabliert, der Mensch sei ein einzelgängerisches, rationales Raubtier. Das hat das Allgemeinwesen empfindlich gestört, weil dieses Verhalten das Gegenteil unserer hochsozialen Biologie ist.
Jeder Soziologe wird es bestätigen. Der Mensch an sich ist ein hochsoziales Wesen. Es gibt Studien die besagen, dass der Mensch am glücklichsten ist, wenn ihm soziale Anerkennung widerfährt und es uns ebenso ein Bedürfnis ist, Hilfe zurückgeben zu können.
Schon unsere Neandertaler-Vorfahren kümmerten sich um ihre Kranken und Behinderten. Aber seit der Frühindustrialisierung überwiegt wirtschaftliches Interesse über humane Entscheidungen.
Seither werden wir zunehmend darauf konditioniert anzunehmen, dass nur ständiges Wachstum heil bringt. (Längst verbraten wir im Laufe eines Jahres mehr, als ein einzelner Planet zu bieten hat.)
Leichter als befürchtet und schneller als erhofft
Es wird uns allen Toleranz und die Ausrichtung auf neue Werte abverlangen. Doch wir alle wissen, wenn etwas das Leben angenehmer macht und erleichtert, so akzeptieren wir als Gesellschaft schnell die neuen Möglichkeiten.
Machen wir uns gemeinsam auf den Weg in die Zukunft der Menschheit.
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